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Predigt

Predigt zum Gedächtnis der Lübecker Märtyrer

10. November 2017
Propsteikirche Herz Jesu in Lübeck

Es gilt das gesprochene Wort

(Schrifttexte: Offb 7,9-17; Röm 14,7-11; Lk 11,14-23)

„Sie haben sich sogar den Saal angesehen, in dem Ihr Vater verurteilt worden war?“, wurde kürzlich Klaus von Dohnanyi in einem Interview über seinen Vater Hans und dessen Widerstand gegen das Naziregime gefragt. „Ja, ich habe mir das angesehen, diesen gut bürgerlichen „Gerichtssaal“ im KZ Sachsenhausen“(1). Dabei setzt von Dohnanyi das Wort „Gerichtssaal“ bewusst in Anführungszeichen. Dort mag alles Mögliche geschehen sein, aber gerichtet nach Gesetz und Recht wurde mit Sicherheit nicht.

Vom 22. bis 24. Juni 1943 trat der Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freislers Stellvertreter, dem Senatspräsidenten Wilhelm Crohne zusammen. Auch diesen Gerichtssaal des Lübecker Christenprozesses müssen wir in Anführungszeichen setzen. Dieser Prozess war kein Prozess nach Recht und Gesetz, sondern eine Farce. Die Farce bestand darin, dass das Urteil schon längst feststand. Es war von Hitler persönlich festgesetzt worden als Rache gegen seinen Erzfeind Bischof von Galen aus Münster. Die Farce war ein Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Farce war demonstrativ spürbar in den gelangweilten Richtern: Der eine las Zeitung, der andere schrieb Postkarten. Die Farce gipfelte in übelsten und lautstarken Beschimpfungen gegenüber den Angeklagten. Die Farce war, dass alle, die anfänglich ihre Bedenken äußerten, schließlich schwiegen und mitspielten. Der Prozess spottete allen Regeln der juristischen Kunst, er war ein einziges abgekartetes Spiel. Der Zweitverteidiger, der spätere Lübecker Bürgermeister und Landtagspräsident Dr. Walther Böttcher sagte deshalb, er habe nie wieder in seiner Berufslaufbahn einen so unwürdigen Prozess erlebt.

Liebe Schwestern und Brüder, der Römerbrief, aus dem wir eben gehört haben, spricht auch von einem Prozess, von einer Gerichtsverhandlung: „Wir werden alle einmal vor dem Richterstuhl Gottes stehen“ (Röm 14,10). Diese Verhandlung stelle ich mir ganz anders vor als den Lübecker Christenprozess. Für mich ist das endzeitliche Gericht nicht wie ein Schlussstrich, den man unter eine lange Zahlenkette zieht. Gericht ist nicht Abrechnung. Gericht heißt nicht hier ein Minus und da ein Minus und noch ein Minus dazu und vielleicht hier und da mal ein ganz kleines Plus. Schon gar nicht ist es eine Inszenierung, eine Show, die ein schon feststehendes Urteil auf die Bühne bringen und den Angeklagten erniedrigen soll.

Gericht meint wohl zu allererst, dass der Mensch im Angesicht Gottes die Wahrheit über sich selbst erkennt. Was er im Laufe seines Lebens gesucht hat, was er versucht hat, was ihm mehr oder minder gelungen ist, das steht ihm im Gericht Gottes offen vor seinem Angesicht. Der Mensch erkennt sich selber im Angesicht Gottes. Das ist eigentlich das wirklich Läuternde, was auch wehtun kann: Ich erkenne mich selber und ich erkenne schmerzhaft, wo und wie ich hinter mir selber und Gottes Plan her bin. An Gottes unbegrenzter Zuwendung und Liebe erkenne ich, wie begrenzt meine Liebe war. Ich werde neu aus-gerichtet auf Gott hin.

Insofern hat das Gericht mir der Wahrheit zu tun. Deswegen ist es nicht von ungefähr, dass Pilatus dem verhafteten Jesus die alles entscheidende Frage stellt: „Was ist Wahrheit?“ Diese Wahrheit über jeden Einzelnen und über die ganze Welt steht nur einem Einzigen zu, Gott selbst. Steht deswegen die Skulptur vom Prozess Jesu vor Pilatus, die Hans Dinnendahl geschaffen hat, vor der Konche in unserer Lübecker Märtyrerkrypta und ihrem Goldgrund? Deutet dieser Goldgrund nicht auf die Ewigkeit und damit auf Gott selbst hin, vor dem letztlich alles menschliche Richten und Gerichtet-werden sich verantworten muss? Ist das nicht auch der Sinn, warum in unseren Gerichtssälen für gewöhnlich Kreuze hängen oder leider Gottes mancherorts hingen?

Aber das Kreuz im Gerichtssaal deutet wahrscheinlich noch auf etwas anderes hin, nicht nur auf die Verantwortung vor Gott selbst, sondern auf etwas, das uns in dieser Situation des Gerichts viel Trost geben kann. Der, der uns da richtet, ist eben nicht nur unser Richter, sondern er ist gleichzeitig unser Fürsprecher, der, der uns auf-richtet. Er ist der, der unsere Menschennatur voll und ganz kennt, der um die Größe und Schwäche des menschlichen Lebens weiß. Es ist der, der uns deutlich macht: Das Gericht Gottes ist keine Geheimhaltungssache, geschieht nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit, sondern ist transparent. Vor allem ist es transparent in seinen Kriterien: Das einzige Kriterium ist die praktizierte Liebe.

Liebe Schwestern und Brüder, wie der Römerbrief sagt, werden wir alle vor diesem Richterstuhl Gottes einmal erscheinen müssen. Wann das für den Einzelnen der Fall ist, weiß keiner von uns. Der Römerbrief zieht deswegen Konsequenzen für das Hier und Heute: „Wer bist du, dass du über deinen Nächsten richtest?“ Überlass das Richten Gott allein, spiel dich nicht zum Richter auf! Sei lieber jemand, der andere auf-richtet. Sei wie die vier Lübecker Geistlichen jemand, der Arme, Leidende, Ausgegrenzte aufrichtet. Dann wirst du selber nicht krumm und eingeschüchtert, sondern kannst aufrecht stehen. Amen.


(1) Vgl. „Ich weiß nicht, ob die heutige Generation so tapfer wäre“, Interview Matthias Wyssuwa: Frankfurter Allgemeine, Magazin Oktober 2017, 69-71.

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