„Niemand kann durch gute Taten oder ein streng moralisches Leben den Himmel oder die Gnade Gottes verdienen. Niemand muss die Liebe Gottes verdienen oder Gott gnädig stimmen. Wer Gott so nah ist und erfahren hat, dass Gottes Liebe und Barmherzigkeit die Kraft haben, diese Welt zu verwandeln, den drängt es nach außen, der wird das Gerechte tun wollen.“
Erzbischof Dr. Stefan Heße
Es gilt das gesprochene Wort!
Liebe Schwestern und Brüder,
vor 80 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Deswegen wird es in diesem Jahr sicher etliche Gedenkveranstaltungen geben, die daran erinnern. Vor wenigen Tagen konnten wir der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 1945 gedenken.
Heute, am 2. Februar vor 80 Jahren wurde der Jesuit Alfred Delp umgebracht. Noch am Dreikönigstag vor 80 Jahren schreibt er: „Wir sind nicht allein. Wir sind den Dingen gewachsen.“ Es scheint, dass gerade in der Verfolgung und Gefangenschaft, in äußersten Situationen viele Zeugen einen klaren Blick für die wesentlichen Dinge des Lebens hatten, sodass sie sie in solchen prägnanten Formulierungen ausdrücken konnten.
Im KZ Flossenbürg wurde der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, ein leidenschaftlicher Kämpfer gegen den Nationalsozialismus, noch kurz vor Ende des Krieges am 9. April 1945 ermordet. Ungefähr ein Jahr vor seinem Tod schrieb er an sein Patenkind unter anderem den folgenden sehr klaren Satz: „Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“.
Genau auf diese Spur können uns zwei Gestalten verweisen, die am heutigen Fest der Darstellung Jesu im Tempel eher am Rande stehen. Im Mittelpunkt steht das Kind und selbstverständlich seine Eltern, die 40 Tage nach der Geburt – Jesus ist also wirklich noch sehr sehr klein – den Weg nach Jerusalem auf sich nehmen, um dort genau das zu tun, was das jüdische Gesetz vorsieht: das erstgeborene Kind Gott zu weihen, im Tempel darzubringen. Offenbar ist dieser Ritus für sie etwas sehr Wichtiges, sodass sie nicht darauf verzichten wollen. Sie erfüllen diese Pflicht, die für sie eine Pflicht der Liebe ist.
Um dieses zentrale Geschehen herum stehen zwei alten Menschen – beinahe als Kontrast zu den 40-tägigen kleinen Jungen Jesus. Schauen wir ein wenig auf diese beiden, auf Simeon und Hanna.
Warten
Von Beiden wird gesagt, dass sie warten. Sie warten auf den Erlöser, auf den Messias, der alle retten wird. Offenbar ist dieses Warten kein einfaches Abwarten, sozusagen nach dem Motto: abwarten und Tee trinken, also reine Passivität. Dieses Warten scheint mir bei den Beiden so etwas wie die Triebfeder ihres Lebens zu sein. Genau das hält sie wach, das hält sie am Leben, das ist der Sinn ihres Daseins: auf den Erlöser warten, bereit sein, auf ihn zu zugehen. In der Begegnung mit Jesus im Tempel ereignet sich die wichtigste Stunde ihres Lebens. Auf diese Begegnung hin haben sie ihr Leben ausgerichtet. Der Messias ist nur einer: dieses Kind, Jesus, der Christus – keiner sonst! Vorsicht vor allen, die sich selbst zum Messias erklären.
Fromm im Tempel
Von beiden wird erzählt, dass sie sich offenbar oft im Tempel aufhalten. Wenn einige Jahre später Maria und Josef ihren zwölfjährigen bei der Wallfahrt nach Jerusalem suchen und im Tempel wiederfinden, müssen Sie sich das Wort Jesu gefallen lassen: „Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss“. Man könnte sagen: Simeon und Hanna leben im Haus des Vaters. Sie genießen die Nähe Gottes, aus der sie nicht herausfallen wollen. Deswegen gehen sie so oft in den Tempel. Offenbar nicht um etwas Äußerliches zu tun, sondern um die Nähe Gottes nicht zu verlieren, um sich immer wieder bewusst in Gottes Nähe hineinzustellen. Von Simeon heißt es schlicht und einfach, dass er ein frommer Mann war. Also nicht frömmelnd, nicht etwas Aufgesetztes, etwas Äußerliches, keiner, der sich einfach an Gesetz und Ritus entlanghangelt. Ein echter frommer Mensch ist wohl jemand, der aus der Nähe zu Gott leben will.
Gerecht
Von Simeon und wird noch eine zweite Haltung erwähnt, er sei gerecht. Heutzutage bezeichnet man einen Menschen als „gerecht“, wenn sein Verhalten dem allgemeinen Verständnis von Recht und Moral entspricht. Im Alten Testament hat der Begriff jedoch eine andere Bedeutung: Er beschreibt eine Person, die sich ganz nach dem Willen Gottes ausrichtet. Gerechtigkeit wird dort also weniger als die Einhaltung abstrakter Ideale verstanden, sondern als Ausdruck der Verbundenheit mit Gott und den Mitmenschen, die das Leben prägen – etwa der Familie und dem Volk. Mit Blick auf die 80 Jahren nach Kriegsende, sind wir mehr denn je gefragt, gerecht zu leben und der Gerechtigkeit Raum zu verschaffen. Als „Gerechte der Völker“ werden jene Nicht-Juden in der Gedenkstätte Yad Vashem geehrt, die die während des Holocausts unter Einsatz ihres Lebens Juden vor der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime gerettet haben. Beten und hoffen wir, dass auch in unseren Zeiten viele Menschen, Christen und Nicht-Christen, bereit sind, sich für die Würde und Freiheit aller Menschen einzusetzen.
Liebe Schwestern und Brüder,
Simeon und Hanna leben das, was Dietrich Bonhoeffer ein Jahr vor seinem Tod seinem Patenkind schreibt: „Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Bonhoeffer sagt „nur“ und verweist damit auf das Wesentliche: zuallererst die Nähe, die Liebe, einfach die Freundschaft mit Gott selbst, die sich im Beten ausdrückt. Diese Reihenfolge ist entscheidend: Nicht indem wir das Gute tun, werden wir gerecht. Niemand kann durch gute Taten oder ein streng moralisches Leben den Himmel oder die Gnade Gottes verdienen. Niemand muss die Liebe Gottes verdienen oder Gott gnädig stimmen. Wer Gott so nah ist und erfahren hat, dass Gottes Liebe und Barmherzigkeit die Kraft haben, diese Welt zu verwandeln, den drängt es nach außen, der wird das Gerechte tun wollen.
Von unserem Bistumspatron, dem heiligen Ansgar, wird ähnliches gesagt: „Intus monachus sed foris apostolus“, im Inneren Mönch, nach außen Apostel, so beschreibt ihn der Chronist Adam von Bremen (in Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, der Hamburgischen Kirchengeschichte aus dem Jahr 1095.) Vielleicht ein Impuls, das Innen und Außen unseres eigenen Glaubens noch einmal anzuschauen und, wie Hanna und Simeon, fromm und gerecht vor Gott zu leben.