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Predigt

Predigt zum Todestag der Lübecker Märtyrer

10. November 2016
Prosteikirche Herz Jesu Lübeck

Es gilt das gesprochene Wort


Liebe Schwestern und Brüder,

„Die verlorene Barmherzigkeit“. In diesem Buch berichtet der russische Schriftsteller Daniil Granin von einer persönlichen Erfahrung: Nach einem schweren Sturz auf einer der Straßen Leningrads lag er blutüberströmt am Boden – und keiner hat sich um ihn gekümmert: „Verlorene Barmherzigkeit“.

Daniil Granin beklagt, dass in der modernen sowjetischen Gesellschaft offenbar für Barmherzigkeit kein Platz mehr sei. Sogar das Wort dafür – Miloserdie – war aus dem Lexikon verschwunden.

Die Zeit der Lübecker Geistlichen im sogenannten Dritten Reich: Auch eine Zeit, in der die Barmherzigkeit verloren ging?! Eine Zeit, in der das Recht gebeugt wurde, und von „Gnade vor Recht“ keine Spur mehr festzustellen war. Eine Zeit, in der Menschen anderen Glaubens verfolgt wurden und Deutschland verlassen mussten. Eine Zeit, in der Synagogen brannten und Krematorien. Eine Zeit, in der Gewalt und Terror regierten und Kanonenkugeln Städte und Menschen vernichteten. Eine Zeit, in der Ausländer und eine Reihe anderer Menschen in ihren Rechten beschnitten wurden. Eine Zeit, der KZ’s und, und, und: Die verlorene Barmherzigkeit!

In dieser Zeit haben die vier Lübecker Geistlichen die verlorene Barmherzigkeit nicht aus dem Auge gelassen. Als Christen haben sie aus dieser Barmherzigkeit Gottes gelebt und anderen diese Barmherzigkeit vorgelebt und weitergegeben: den Gläubigen der Gemeinden, vor allen Dingen den Jugendlichen, vielen fremdsprachigen Katholiken und nicht zuletzt polnischen Gläubigen.

Liebe Schwestern und Brüder,
wir stehen fast am Ende des von Papst Franziskus ausgerufenen Jahres der Barmherzigkeit und die Heilige Pforte am Eingang unserer Propsteikirche hier in Lübeck erinnert uns stets daran.

Gerade erst vor wenigen Tagen hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble vor dem Rat der EKD gesprochen und ausgeführt, dass der Staat für Gerechtigkeit und Recht zu sorgen habe, dass aber die Institutionen des Staates mit der Barmherzigkeit überfordert seien. Dies sei vor allen Dingen Aufgabe der Kirche.

Wolfgang Schäuble macht damit deutlich: Barmherzigkeit entsteht nicht allein durch die Verteilung materieller Güter oder professionelle Unterstützung. Barmherzigkeit braucht die konkrete Zuwendung von Mensch zu Mensch.

Ob auch in unserer Zeit die Barmherzigkeit verloren gegangen ist? Menschen, die blutüberströmt auf dem Boden liegen und um die sich niemand kümmert, die kennen auch wir. Neunzehn Minuten und fünf Menschen hat es gebraucht bis einem Rentner aus Essen geholfen wurde. Er ist am 3. Oktober im Vorraum einer Bankfiliale zusammengebrochen. Vier Menschen kommen nach ihm in die Bank und erledigen unbekümmert Ihre üblichen Dinge: Geld abheben, Kontoauszüge drucken oder Überweisungen tätigen. Sie steigen über ihn drüber oder gehen um ihn herum – und tun nichts.

Nach 19 und Minuten und vier Personen kommt dann ein fünfter Kunde und wählt den Notruf – leider zu spät. Der Rentner ist im Krankenhaus verstorben. Die Öffentlichkeit ist schockiert, von Werteverfall und Verrohung ist die Rede. Die Polizei hat die vier Personen inzwischen vorgeladen. Sie ermittelt wegen unterlassener Hilfeleistung.

Der Psychologe Peter Walschburger hat wenig später die Situation analysiert und versucht Erklärungsansätze für das Verhalten der ersten vier Kunden zu finden. Er glaube nicht, dass mit den vier Personen zufällig nur völlig verrohte Menschen in die Bank gekommen sind. Im Gegenteil: „Der Mensch ist eigentlich von Natur aus sozial und bereit zu helfen.“, sagt Walschburger.

„eigentlich“! Das Problem steckt vermutlich in diesem kleinen Wort: Eigentlich helfen wir alle gerne. Eigentlich ist Hilfeleistung selbstverständlich. Es gibt ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden und etwas Gutes zu tun. Eigentlich gibt es keinen Werteverlust und keine Verrohung der Gesellschaft.

Nur leider setzen wir allzu oft hinter das Wort „eigentlich“ das Wort „aber“: Aber ich will mich nicht blamieren. Aber vielleicht ist das ein Obdachloser, der sich ausruht. Aber ich will nicht stören. Aber ich habe es eilig. Aber andere haben ja auch nichts getan. Aber vielleicht mache ich ja etwas falsch. Wir alle kennen diese Gedanken vermutlich. [Ödön von Horváth: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“]

Liebe Schwestern und Brüder,
die Lübecker Märtyrer hatten mit Sicherheit genügend „Abers“. Auch sie waren wohl nicht frei von Ängsten und Zweifeln. Ihre Haltung war vermutlich angefochten – äußerlich wie innerlich. Und trotzdem haben sie aus dem Glauben die Kraft gefunden, aus ihrer eigentlichen Haltung eine tatsächliche zu machen. Sie waren nicht eigentlich barmherzig, sondern wirklich.

Das macht die vier zu Glaubenszeugen für uns heute: Nicht eigentlich glauben, hoffen und lieben, sondern wirklich. Das Gedächtnis der vier Lübecker Märtyrer verpflichtet uns, mitten in der Welt von heute Zeugen der Barmherzigkeit zu sein. Nicht eigentlich, sondern konkret.

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