Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Schwestern und Brüder,
„Ich war fremd und…“ Dieses Wort stand als Überschrift über der diesjährigen St. Ansgar- Woche und es zog sich durch die vielen Gottesdienste und Veranstaltungen wie ein roter Faden durch: in Predigten, in Gebeten, in Referaten, in Schulprojekten bis hin zur Musik in die Händels Oratorium „Israel in Ägypten“.
Die Fremde, das Fremde und der oder die Fremde sind gar nicht so weit von uns weg. Sie stecken in jedem Leben drin. Gehört es nicht von früh an zum Menschen dazu, dass er fremdelt?
Mich haben sehr bewegt Lebenszeugnisse von Schülerinnen unserer Ansgarschule im Festgottesdienst am vergangenen Mittwoch. Vor ihren Mitschülerinnen und Mitschülern erzählten sie freimütig davon, wie es ihnen in fremden Situationen ergangen ist. Wie es war, als sie beim Schulaustausch die Fremde zu spüren bekamen. Wie es war, als sie die Klasse wechselten und auf einmal fremd in einer neuen Klasse waren.
Ich konnte diese Zeugnisse gut nachvollziehen, gerade aus meiner persönlichen Erfahrung heraus, in ein unbekanntes, fremdes Bistum als Bischof geschickt worden zu sein.
Jeder von uns wird wohl solche Erfahrungen des Fremdseins schon gemacht haben oder machen. Für viele wird das Wort des Evangeliums „Ich war fremd“ Gegenwartsbezüge haben, sie könnten formulieren: „Ich bin fremd“. Erst recht denken wir an die vielen Fremden, die als Flüchtlinge in unser Land kamen und kommen.
Fremdheit, Fremdsein: Das ist eine Menschheitserfahrung, die sich durch alle Zeiten und Regionen dieser Welt hindurchzieht.
Deswegen verwundert es nicht, dass das Thema Fremdsein sich auch durch die Heilige Schrift zieht. Das Volk Israel hat diese Erfahrung am eigenen Leib gemacht. Es hat sich als fremd in einem fremden Land Ägypten empfunden. Es hat die Unterdrückung als Fremde erfahren, und diese Erfahrung und die Befreiung daraus zum Bestandteil der eigenen Erinnerung gemacht.
Solche Erfahrungen machen sensibel für die Fremdheit der Anderen. Sie machen wach für das Gefühl, das Fremde in der Fremde mit sich herum tragen. Und es lässt Respekt wachsen für die Nöte und Fragen der Fremden, der Anderen. So finden sich im Alten Testament viele Hinweise auf Gerechtigkeit, die der Fremde in unserer Mitte erfahren soll: „Einen Fremden sollst du nicht aus-nützen oder ausbeuten“ (Ex 22,10; 23,9). Der Fremde, der Flüchtling muss geschützt werden! Ihm darf der Lohn nicht vorenthalten werden, sein Recht darf nicht gebeugt werden (Dtn 24,14.17). Fremde sollen Anteil am Zehnten erhalten (Dtn 26,12 f). Das Volk Israel lebt davon, dass es im Land Gottes eigentlich kein Fremdsein mehr geben darf: „Gott liebt die Fremden … auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen“ (Dtn 10,18).
Liebe Schwestern und Brüder, auch im Neuen Testament taucht das Thema Fremdsein an unzähligen Stellen auf. Es beginnt mit Jesus selbst. Von ihm wird im Prolog des Johannesevangeliums gesagt: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1, 11). Bei aller Vertrautheit in seiner Familie, mit seinen Jüngern, mit den befreundeten Frauen: Jesus bleibt immer auch der Fremde. Er selber hat Fremdheit, ja Heimatlosigkeit am eigenen Leib erfahren: „Der Menschensohn hat nichts, wo er den Kopf hinlegt“ (Mt 8,20b). Diese Heimatlosigkeit verlangt er auch seinen Jüngern ab (Mt 5,11).
Auch die junge Kirche war sich bewusst, dass sie „in der Fremde“ lebt. Der erste Petrusbrief richtet sich an Gläubige, „die als Fremde …in der Zerstreuung leben“ (1 Petr 1,1). Später heißt es im gleichen Schreiben: „Ihr seid Fremde und Gäste in dieser Welt“ (1 Petr 2,11). Mit solchen Sätzen wird die Überzeugung ausgesprochen, dass wir es uns in der Welt nicht zu heimisch, gemütlich machen sollen.
Liebe Schwestern und Brüder, die Erfahrung des Fremdseins gehört offenbar zum Leben und auch zum Leben eines Gläubigen dazu. Wir sollten diese Erfahrung nicht allzu schnell harmonisieren und mit heimatlichen Gefühlen und Gedanken umkleiden.
Könnten nicht in dieser Erfahrung auch Chancen liegen?
1. Eine erste Chance: Wir sprechen immer wieder von der Nähe Gottes und von einem ganz großen vertrauten Umgang zwischen Gott und dem gläubigen Menschen. Aber für viele Menschen ist der Gott, an den wir glauben, ziemlich fremd – und manchmal auch für uns. Könnte nicht die Fremdheit Gottes ein Erweis seiner Größe und Erhabenheit sein? Könnte es uns nicht neu herauslocken, diesen noch unbekannten Gott immer stärker kennenzulernen?!
2. Eine zweite Chance: Christen in der Fremde, eine Kirche in der Fremde – liegt darin nicht die positive Herausforderung, die Jesus in die Formel münzt: „Bei euch aber soll es nicht so sein!“ Könnten Christen, könnten wir durch unser Leben, durch unsere Gemeinschaft nicht zeigen, dass es in dieser Welt ganz anders zugehen müsste?!
3. Und eine dritte Chance: Wenn andere Menschen hier fremd sind oder wenn ich anderen fremd bin, könnte das nicht das Interesse aneinander vertiefen? Der jüdische Talmud, also die Auslegung des Alten Testaments, bietet eine geradezu revolutionäre Deutung des Fremden. Danach gibt es eigentlich keine Fremden, sondern lediglich Menschen, die sich noch nicht begegnet sind. Vor diesem Hintergrund kann jeder Fremde zum Freund wer-den – vorausgesetzt wir öffnen uns füreinander und nehmen uns einander an. In dem Wort Jesu „Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen“ liegt somit eine Aufforderung: Im Fremden begegnet uns Christus. Der Fremde wird zum Ort der Gottbegegnung.
Liebe Schwestern und Brüder! Fremdsein ist Teil des Menschseins. In ihm liegt eine Chance zum menschlichen, gemeinschaftlichen Neuanfang; eine Chance zur persönlichen Christusbegegnung im Anderen; und eine Chance zu einer größeren Nähe zum ganz Anderen, das wir Gott nennen.