„Wir wünschen unserem verstorbenen Alt-Erzbischof, dass er jetzt in die österliche Dynamik hineingenommen wird. Darauf hat er ein Leben lang hingelebt. Ich wünsche ihm, dass seine Erwartungen bei weitem übertroffen werden.“
Erzbischof Dr. Stefan Heße
Es gilt das gesprochene Wort!
(Les: 2 Kor 5, 14-15.17-19a; Ev.: Joh 17, 20-26)
Die Lebensstationen von Werner Thissen lesen sich wie eine steile Karriereleiter: Am 3. Dezember 1938 wurde er in Kleve am Niederrhein geboren. Weil er nichts anderes als Fußball im Sinn hatte, schickten seine Eltern ihn aufs Internat. Als er dort mehrere Fußballplätze entdeckte, konnte er sich recht schnell damit anfreunden. Nach dem Abitur begann er für kurze Zeit ein Studium der Volkswirtschaft in Köln, um schließlich in die Theologie und Philosophie zu wechseln. Am 29. Juni 1966 wurde er vom damaligen Bischof Joseph Höffner in Münster zum Priester geweiht. Er stand also kurz vor seinem 60. Weihetag, den er im nächsten Jahr hätte feiern können. Nach der Kaplanszeit in Dorsten wurde er Spiritual am Collegium Johanneum in Ostbevern. Danach Subregens im Priesterseminar, schließlich Seelsorgeamtsleiter, Personalchef und von 1986–1999 Generalvikar des Bischofs von Münster. Pfingsten 1999 empfing er die Bischofsweihe – im vergangenen Jahr konnten wir sein silbernes Bischofsjubiläum feiern – am 25. Januar 2003 wurde er als Erzbischof von Hamburg eingeführt. Nachdem er 2014 emeritiert wurde, konnte er noch ein stattliches Jahrzehnt im Ruhestand erleben und gestalten.
Werner Thissen war mit reichen Gaben gesegnet: physisch hatte er eine stabile Konstitution; eine Fülle von Interessen charakterisierten ihn: Kunst, Musik, Literatur. Seinen Intellekt ließ er nicht nur in seiner Dissertation über das Markusevangelium spielen. Auch viele Beiträge in Hörfunk und Fernsehen, nicht zuletzt beim „Wort zum Sonntag“, geben davon Zeugnis. Die Heilige Schrift sagt einmal: Wem viel gegeben wurde, von dem wird auch viel verlangt. Ein Mann mit derartigen Begabungen erhält viele Aufgaben und Verantwortung. Wir haben unsere Begabungen nicht für uns selber, erst recht haben wir sie nicht empfangen, um sie zu verstecken, sondern kräftig damit zu wuchern und sie zu nutzen. Als Christen wissen wir auch, dass wir immer hinter unseren Möglichkeiten zurückbleiben, manchmal unserer Verantwortung eben nicht gerecht werden und zuerst von Gottes und auch der Menschen Barmherzigkeit leben.
Werner Thissen war ein durch und durch gläubiger Mensch. Glauben und Leben bildeten für ihn eine untrennbare Einheit. Die Glaubensschwierigkeiten vieler Zeitgenossen kannte er natürlich, seine Lebenserfahrung war allerdings eine andere, nämlich die einer großen Einheit und Verbundenheit, geradezu eine Selbstverständlichkeit. Der Wechsel in das Erzbistum Hamburg hat ihn deswegen auf ein neues Lernfeld geführt. Hier musste er Säkularität und Diaspora erlernen, Ökumene spielt hier eine viel größere Rolle als im Münsterland.
Gerade die letzten Wochen seiner Krankheit haben diese unverbrüchliche Einheit zwischen Glauben und Leben zum Ausdruck gebracht. Ihm war es ein großes Anliegen, immer wieder, ja fast täglich die Heilige Kommunion zu empfangen. Als ich ihn einmal besuchte, stellte er mir gleich zu Beginn die Frage: „Bist du allein?“ Ich antwortete: „Ja.“ Als wir ein wenig miteinander gesprochen hatten, fragte ich ihn, ob ich ihm jetzt die Kommunion reichen könne. Daraufhin schaute er mich mit großen Augen an und erwiderte: „Also bist du doch nicht allein!“ Das war seine tiefe Frömmigkeit und Erfahrung: Christus begleitet unser Leben und geht alle Wege mit uns.
Gebet, Gottesdienst, Sakramente sind nicht irgendwelche aufgesetzten Übungen, sondern stellen eine tiefe Einheit zwischen menschlicher Natur und göttlicher Gnade dar; zwischen Gott und Mensch.
Werner Thissen hat in den letzten Wochen seiner Erkrankung neue Erfahrungen machen müssen. Jetzt traten plötzlich die Krankheit, der Schmerz, die Angst mit voller Wucht in sein Leben. Jetzt musste er klagen, schreien – wie in den Klagepsalmen. Und das hat er dann auch mit lauter Stimme getan, wie er so oft ein Lied auf den Lippen hatte, war es jetzt das Klagen. Dann allmählich wurde er ruhiger und gab sich in Gottes Hände: Tu mit mir, was du willst.
Bei einer Probe des Ensembles von John Neumeier zum Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach verschlug es ihm seinerzeit die Sprache. Die Musik, der Tanz deuten elementare Lebensvollzüge wie Dank, Sehnsucht, Erfüllung, Bedürftigkeit, Bitte, Schmerz und Jubel. Nach dem Ballett stand vor seinem inneren Auge ein Bild aus der Weiheliturgie unserer Kirche. Bei der Diakonen–, bei der Priester– und auch bei der Bischofsweihe liegen die Kandidaten ausgestreckt auf dem Boden. Interpretierend fügte er hinzu: „Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie viel innere Dynamik in solch einer Haltung liegt.“ Am Ende war es das Krankenbett, das ihm zum Sterbebett wurde. Hier lag er so flach wie bei seinen Weihen. Wir wünschen unserem verstorbenen Alt-Erzbischof, dass er jetzt in die österliche Dynamik hineingenommen wird. Darauf hat er ein Leben lang hingelebt. Ich wünsche ihm, dass seine Erwartungen bei weitem übertroffen werden. Das erbitten wir vom auferstandenen Herrn für den Verstorbenen, gerade in diesen österlichen Tagen. Amen.