Startseite > Erzbistum > Bistumsleitung > Ansprache bei Gedenkstunde für die Opfer der Kriege und Gewaltherrschaft am Volkstrauertag
Schreiben Sie uns per Messenger
Startseite > Erzbistum > Bistumsleitung > Ansprache bei Gedenkstunde für die Opfer der Kriege und Gewaltherrschaft am Volkstrauertag
Predigt

Ansprache bei Gedenkstunde für die Opfer der Kriege und Gewaltherrschaft am Volkstrauertag

18. November 2018
Landtag Kiel

Es gilt das gesprochene Wort


Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Schlie,
sehr geehrter Herr Dr. Klug,
sehr geehrte Frau Ministerin Dr. Sütterlin-Waack,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrter Bischof Magaard,
sehr geehrte Damen und Herren,

es ist schon etwas Besonderes, die Gedenkrede zum Volkstrauertag ausgerechnet 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hier in Kiel halten zu dürfen. Der Kieler Matrosenaufstand und seine Bedeutung für die Geschichte sind in den letzten Wochen nicht nur hier an dieser Stelle, sondern bundesweit gewürdigt worden und endlich – so muss man es fast sagen – wieder in den Blick gerückt. Im November 1918 verbreitet sich hier von Kiel und anderen Häfen aus die Revolution schnell im Deutschen Reich. Alle 22 gekrönten Häupter treten zurück oder werden abgesetzt. Am 9. November wird die Abdankung von Kaiser Wilhelm II. bekanntgegeben und die Republik ausgerufen. Am 11. November vor hundert Jahren schließlich unterzeichnet Matthias Erzberger den Waffenstillstand, der die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs beendet.

2018 ist voller Jahrestage von Krieg und Frieden, von Gewalt und Neuaufbruch: Vor 400 Jahren begann der Dreißigjährige Krieg. Vor 80 Jahren ereigneten sich die Novemberpogrome. Vor 75 Jahren verfasste der Kreisauer Kreis um das Ehepaar von Moltke die „Grundsätze für die Neuordnung“ Deutschlands nach dem Kriege. Vor 65 Jahren kam es zum Waffenstillstand im Koreakrieg. Vor 50 Jahren schlugen Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling nieder. Und so weiter – wir kennen diese Zahlen. Die bittere Realität ist: Die Jahrestage werden zahlreicher. Bald werden wir – werden die Menschen, die zu uns flüchten – den zehnten Jahrestag des Beginns des Syrienkrieges erleben. Ich hoffe inständig, dass es zuvor Frieden geben wird.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Krieg und Gewalt hinterlassen Spuren im Kalender – aber zuerst Spuren in Menschen und Gesellschaften. Daher halte ich es für wichtig, dass wir in Deutschland alljährlich den Volkstrauertag begehen. Wir trauern um die Menschen, die die Folgen von Unfrieden, von Ideologien und Verfolgungen zu tragen hatten und haben. Der jährliche Volkstrauertag will das Gedenken verstetigen. Wir schließen die Trauer nicht ab. Im Gegenteil: Wir kultivieren sie sogar. Wir haben sie uns verordnet, pflegen sie wie die Grabstätten. Auch heute noch, da das persönliche Kriegserleben in unserem Land immer weniger im Vordergrund steht. Ich kenne es – Gott sei Dank – nur aus den Erzählungen in der Familie: Meine Mutter ist 1942 in einem Bunker geboren und mein Vater war mit seiner Familie im Bergischen Land bei Köln evakuiert. Demgegenüber ist Krieg für einige Menschen auch heute eine Realität – etwa für die deutschen Soldaten, die im Ausland eingesetzt sind. Über hundert sind seit den 199er Jahren verstorben. Kriegserleben ist auf einmal ganz nah gekommen mit den Geflüchteten, die bei uns Schutz suchen. Die Erlebnisse, von denen diese Menschen erzählen – Menschenhandel, Missbrauch, Vertreibung, Zerstörung – das bewegt viele. Bei Älteren kommen Erinnerungen hoch. Die Jüngeren sind auf einmal hautnah mit dieser Wirklichkeit konfrontiert, die ihnen eigentlich unbekannt ist.

Dennoch erinnern wir heute nicht nur, wir trauern. Das macht deutlich: Die Toten sind keine zufälligen oder unvermeidbaren Opfer, keine Betroffenen von Unfällen oder Naturkatastrophen, keine sogenannten Kollateralschäden. Ursachen für ihre Tode waren und sind der menschliche Unwille und die menschliche Unfähigkeit zum Frieden, nicht zuletzt aufgeheizt durch Ideologien wie den Nationalismus. Die Toten mahnen uns nicht nur, sie fehlen auch. Wir trauern, weil offene Lücken bleiben: Menschen fehlen und damit ihre Kinder und Kindeskinder. Fragen bleiben: Warum? Was wäre wenn? Die heutige Gedenkveranstaltung und sehr sinnbildlich das Bücken und das Verneigen bei Kranzniederlegungen sind ein Zeichen der Demut: „Wir haben verstanden.“ und „Nie wieder.“

Sehr geehrten Damen und Herren,

„Suche Frieden“, unter diesem Motto stand der Katholikentag im Frühjahr dieses Jahres. Angesichts der zahlreichen Kriegs- und Friedensjahrestage hat das Vorbereitungskomitee ganz bewusst diesen Titel gewählt – nicht zuletzt auch deshalb, weil der Katholikentag in Münster stattgefunden hat. Also der Stadt, in der neben Osnabrück vor 370 Jahren der Westfälische Frieden geschlossen wurde. Für mich persönlich war wieder neu beeindruckend, im Friedenssaal des historischen Rathauses in Münster zu stehen und mir vorzustellen, dass dort der langersehnte Frieden geschlossen wurde. „Pax sit – Es soll Frieden sein“, beginnt der ausgehandelte Vertragstext. Es sollen ein immerwährender Friede sein und wahre und aufrichtige Freundschaft herrschen: Darauf haben sich die Vertragsparteien geeinigt. Im Letzten war es weniger die Müdigkeit nach dreißig Jahren Krieg, als der erwartete Nutzen eines Friedens, eine wachsende Kompromissbereitschaft sowie die gemeinsam getragenen Wertvorstellungen, die den Westfälischen Frieden ermöglicht haben. Ich frage mich, was diese Wertvorstellungen waren? Und vor allem: Was dient dem Frieden heute?

Sicherlich lassen sich solche Wertvorstellungen nicht auf einen einzigen Punkt bringen. Aber ich möchte heute gerne eine Fähigkeit hervorheben, die mir besonders wichtig erscheint: das Mitfühlen. Zwei Aspekte möchte ich benennen:

Ein erster Aspekt: Mitfühlen ist nicht Empathie. Empathie ist nur ein erster Schritt zum Mitfühlen. Mitgefühl will nicht nachempfinden, sondern nach vorne schauen; will nicht passiv empfinden, sondern aktiv sorgen. Die Hirnforschung sagt, Mitgefühl ist trainierbar. Es kostet mich zwar etwas, mich für Mitgefühl zu entscheiden, aber je öfter ich diese Entscheidung fälle, desto leichter fällt es mir. Ich gebe zu, das kann durchaus anstrengend und unbequem sein. Eine Journalistin brachte es vor kurzem auf den Punkt: „Das anhaltende Mitfühlen lernt der Mensch ‚im Sturm der Zeit‘: beim Erste-Hilfe-Einsatz in einem bundesdeutschen Bahnhofsviertel, bei einer Dresdener Podiumsdiskussion, auf Schulhöfen, an ausgefransten Stadträndern, in der U-Bahn, beim Verteilen von Kleidern an Flüchtlinge, an Kneipentresen, und und und“ Mitfühlen – so könnte man feststellen – ist schon eine der großen Lektionen im Kindergarten – und dennoch ein Leben lang einzuüben.

Ein zweiter Aspekt: Mitgefühl ist nicht Mitleid, sondern passiert auf Augenhöhe, bedeutet Anerkennung. Wer Mitgefühl lebt, macht dem anderen deutlich: Du bist ein Mensch mit Würde Wir gehören als Menschen zusammen, sind im Letzten eine Familie. Dein Anderssein ist für mich keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung. Denn erst dadurch, dass du anders bist als ich, lerne ich mich durch dich selber besser kennen. Wir erleben das alle in unserem Alltag: Durch neue Bekanntschaften eröffnen sich uns ganz neue Horizonte. Der Umzug in eine andere Stadt und Umgebung bringt uns unsere eigene Herkunft neu zu Bewusstsein. Im Engagement für und mit anderen bin ich letzten Endes selber oft der Beschenkte. Andersherum gilt: „Wer sich verschließt, der wird auch sich selbst nie kennen lernen.“ Damit ist Mitgefühl „die Grundlage einer gelingenden sozialen Kultur. Sie ist das Bindemittel. Ohne Mitgefühl kein Miteinander.“ Mitgefühl ist ein Gegenmittel gegen den vielbeklagten gesellschaftlichen Riss, der durch unser Land geht, der durch Europa geht, ja durch unsere Welt. Es ist ein Gegenmittel gegen Angst, Neid, Hass und Aggression. Mitgefühl dient dem Frieden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

der November ist nicht nur der ‚Totenmonat‘, wir begehen auch andere Jahrestage: Im November feiern wir den Heiligen Martin und die Heilige Elisabeth von Thüringen. Wir gedenken der Hinrichtung der Lübecker Märtyrer – in diesem Jahr vor 75 Jahren. Martin, Elisabeth und die vier Lübecker Märtyrer geben bis heute ein Beispiel davon, was es heißt, Mitgefühl zu leben, den anderen nicht zuerst als Fremden oder Konkurrenten, sondern als Mensch mit der gleichen Würde zu sehen. Der Heilige Martin gab die Hälfte seines Mantels dem Bettler. Die Heilige Elisabeth verteilte Brot an Arme und hat sich um deren medizinische Versorgung gekümmert. Die Lübecker Märtyrer hielten im Nationalsozialismus mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg und kümmerten sich um polnische Zwangsarbeiter.

Auch das Engagement vieler Menschen heute in unserem Land und weltweit wie beispielsweise des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge unter dem Leitwort „Versöhnung über den Gräbern“ machen mich zuversichtlich: Mitgefühl kann wachsen, unser Bewusstsein als Menschen zusammenzugehören kann wachsen – und damit: Frieden kann wachsen.

Weitere Predigten

Grußwort des Erzbischofs zur Mahnwache „Hände weg vom Kirchenasyl!“

Reesendammbrücke am Jungfernstieg / Hamburg
08. Oktober 2024

Hirtenwort anlässlich des Ansgarfestes 2024

St. Marien-Dom Hamburg
02. Februar 2024

Jahreswechsel 2023/24

St. Marien-Dom Hamburg
31. Dezember 2023
powered by webEdition CMS