"Wir brauchen dringend eine Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems, einen besseren Flüchtlingsschutz und eine faire Verantwortungsteilung zwischen allen EU-Mitgliedsstaaten – kurz gesagt: eine menschenwürdige und solidarische Flüchtlingspolitik."
Erzbischof Dr. Stefan Heße
Es gilt das gesprochene Wort!
(Les: Offb 22, 1-3)
Das Bild vom fließenden Wasser, das wir in diesem Gottesdienst schon mehrfach gehört haben, ist bei Leibe nicht nur ein Bild – und vor allem nicht nur einfach ein positives. Für viele ist überfließendes Wasser Realität, manchmal grausame Realität: das Wasser, das alles durchdringt, mit sich reißt, vieles unter sich begräbt. Wir kennen die Bilder der Tsunamis weltweit, das überschwemmte Ahrtal 2021 oder die Jahrhundert-Elbeflut von 2002. Kürzlich erst die Überflutungen in Libyen, Griechenland und der Türkei.
Wasser, das eben nicht nur Leben spendet... Das Mittelmeer ist dabei offenbar der größte Friedhof dieser Welt. Papst Franziskus wird nicht müde, darauf hinzuweisen, wenn er über Migration spricht. (1) Vor wenigen Tagen noch war er in Marseille, unserer Partnerstadt, weil gerade die Mittelmeerregion so stark von Flucht und Vertreibung betroffen ist. Allein diesen September sind an manchen Tagen 5000 Menschen auf Lampedusa angekommen. Es geht zu allererst um Menschen. Hinter allen diesen Zahlen und Herausforderungen stehen einzelne konkrete Menschen, deren Würde genauso unantastbar ist wie die unsere und eines jeden Menschen.
Diesen Sommer war ich als Flüchtlingsbischof auf den griechischen Inseln und in der Türkei. Lesbos wirkt zunächst wie eine Idylle, ein Ferienort, doch dann die Realität der überfüllten Flüchtlingscamps. Ich habe dort mit den Menschen sprechen können. Sie haben mir ihre konkreten Sorgen anvertraut: Gesundheit, Ernährung, Bildung, Sicherheit und einige haben mir auch von ihren traumatischen Fluchterfahrungen berichtet.
Als Christen sind wir der Überzeugung: Jeder ist unsere Schwester, unser Bruder. Wir sind Mitmenschen. Niemand ist eine Insel. Bleiben wir nicht auf unseren einsamen Inseln, wo wir letztlich im Selbstgespräch enden, nicht in unseren manchmal allzu kleinteiligen Kästchen oder in den allzu selbstverliebten Blasen. Wir brauchen dringend eine Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems, einen besseren Flüchtlingsschutz und eine faire Verantwortungsteilung zwischen allen EU-Mitgliedsstaaten – kurz gesagt: eine menschenwürdige und solidarische Flüchtlingspolitik. Und darum müssen wir alle gemeinsam ringen!
Auch an die Adresse meiner eigenen Kirche sage ich: Bleiben wir nicht unter uns! Hier in Hamburg zum Beispiel ist die katholische Kirche international: ein Drittel der Katholiken, die hier leben, kommt nicht aus Deutschland, sondern hat einen Migrationshintergrund. Welche Bereicherung!
In diesen Tagen nehme ich jedoch auch wahr, dass all die Entwicklungen, mit denen wir aktuell konfrontiert sind, wie ein einziger Strom, ein reißendes Wasser sind, in dem wir schon ziemlich gut schwimmen können müssen. Für einige mag es sich anfühlen, dass das Wasser bis zum Halse reicht. Rufe werden laut, dass wir drohen unterzugehen, Ängste kriechen hoch. Doch da sind wir alle gefragt: Machen wir die Hoffnung groß! Und Hoffnung ist mehr als ein pragmatischer Optimismus! Der positive Blick nach vorne, der nicht naiv ist, wird uns und unsere Gesellschaft lebendig und kraftvoll machen, so dass sie viele Herausforderungen gut bewältigen kann.
Auf meiner Reise vor kurzem in die Ägäis bin ich so vielen Menschen begegnet, die durch ihr Engagement und ihr Handeln „zur Heilung der Völker" beitragen, wie dieser Strom lebedigen Wassers aus der Bibel. Und auch hier in Hamburg sehe und weiß ich doch, wieviele Menschen sich für andere einsetzen – in Hamburg ist es jeder und jede dritte Bürgerin, in Deutschland insgesamt 29 Millionen – Tendenz steigemd, weil ihnen das Argument des anderen nicht gleichgültig ist. Sie sind das zugewandte und optimistische Gesicht unseres Landes. Dafür bin ich dankbar und das stimmt mich hoffnungsvoll.
[1] „Und so ist dieses wunderschöne Meer zu einem riesigen Friedhof geworden, wo viele Brüder und Schwestern selbst des Rechtes auf ein Grab beraubt werden - nur die Menschenwürde wird hier begraben.“ Papst Franziskus in Marseille, 22.09.2023, BEGEGNUNG MIT RELIGIONSFÜHRERN AN DER GEDENKSTÄTTE FÜR SEELEUTE UND MIGRANTEN, DIE AUF SEE UMS LEBEN GEKOMMEN SIND.