Liebe Schwestern und Brüder,
Sprache entwickelt sich fortwährend. Wörter verschwinden, neue entstehen. Im Herbst 2016 hat die Bundeskanzlerin zum ersten Mal ein bis dahin ungewöhnliches, nicht gekanntes Wort verwendet: postfaktisch. In den Medien wurde es aufgegriffen. Anfang Dezember hat die Gesellschaft für deutsche Sprache das Adjektiv „postfaktisch“ zum Wort des Jahres 2016 gewählt. Dabei ist nicht die Häufigkeit entscheidend, sondern die Signifikanz, die Popularität und die sprachliche Qualität. Übrigens hat im englischsprachigen Bereich eine ähnliche Konstruktion den Wettbewerb gewonnen: Word of the year 2016 wurde „post-truth“. Post-truth, postfaktisch: Post das bedeutet nach. Also offenbar eine neue Epoche, eine Zeit nach den Fakten. Postfaktisch – das meint statt Fakten Emotionen und statt Wahrheit gefühlte Wahrheit; aber im Zweifel auch Lüge, Ablenkung oder Verwässerung. Nicht von ungefähr tauchte dieses Wort im Zuge von Wahlkämpfen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf, die mehr und mehr populistisch werden.
Liebe Schwestern und Brüder, Christen können nie und nimmer postfaktische Menschen sein. Persönliche Gefühle und Emotionen sind gut und wichtig. Nur dürfen wir uns von Ihnen allein nicht bestimmen lassen. Erst recht nicht von gesellschaftlichen Stimmungen, die einseitig negativ sind oder auf Lüge, Verwässerung und Beschönigung aufbauen.
Das Christentum setzt auf Fakten und Wahrheit. Jesus Christus selber ist das Faktum Gottes schlechthin. Dieses Faktum können wir nie und nimmer hinter uns lassen. Im Gegenteil: Wenn wir jedes Jahr Weihnachten feiern, dann rufen wir uns dieses Faktum immer wieder in Erinnerung. Jesus Christus ist keine Legende oder abstrakte Idee, sondern eine konkrete Person, wahrer Mensch.
Die erneuerte katholische Einheitsübersetzung der heiligen Schrift bringt diese Grundlage unseres Glaubens noch klarer zum Ausdruck als die bisherige Fassung. In der Geburtsgeschichte im ersten Kapitel bei Lukas heißt es in der neuen Übersetzung gleich dreimal: „Es geschah“. Schaut man in die lateinische Fassung der heiligen Schrift, heißt es an diesen drei Stellen immer: factum est, d. h. Es ist faktisch. Es ist konkret geschehen. Gleich zu Beginn des Weihnachtsevangeliums heißt es: „Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erließ, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen“ (Lk 2,1). Wenig später: „Es geschah, als sie dort waren, da erfüllten sich die Tage, dass sie gebären sollte, und sie gebar …“ (vgl. Lk 2,6f). Und noch einmal: „Und es geschah, als die Engel von ihnen in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander: Lasst uns nach Bethlehem gehen …“ (Lk 2,15).
Der Evangelist Johannes bringt das Faktum der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zu Beginn seines Evangeliums auf die knappe Formulierung: „und das Wort ist Fleisch geworden.“ Wiederum auf lateinisch: Verbum caro factum est. (Joh 1,14)
Liebe Schwestern und Brüder, dieses Faktum der Menschwerdung Gottes vor 2000 Jahren in Bethlehem ist alles andere als Romantik. Der Kontext der Geburtsgeschichte ist die Gewaltherrschaft der Römer, die Tyrannei des Herodes. Zu dieser Geburtsgeschichte gehört Mord, Flucht und Vertreibung dazu. Allein die eine Ortsangabe „Syrien“ (Lk 2,2) bringt uns die Dramatik in unbeschreiblicher Weise auf den Punkt – damals wie heute. Das Neue Testament ist in den Regionen entstanden, aus denen die Menschen jetzt zu uns kommen. Wer gerade jetzt meint, vom christlichen Abendland reden zu müssen, muss sich darüber im Klaren sein, wo unsere religiösen und kulturellen Wurzeln wirklich liegen, nämlich im Morgenland.
Je länger ich über das Weihnachtsevangelium nachsinne, umso deutlicher wird mir: Die Fakten von damals finden sich wieder in den Fakten von heute. In Flucht und Vertreibung, in Migration und Trennung, in Hunger und Elend, in Krieg und Terror, in Gewalt und Verfolgung. Leider jetzt auch in Berlin. Menschen sind dort Opfer einer entsetzlichen Gewalttat geworden, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Manche haben schon sehr schnell versucht, die Opfer von Berlin für ihre politischen Absichten zu instrumentalisieren. Das ist nicht akzeptabel. Warten wir auch hier auf die Fakten, die uns verstehen helfen, was dort geschehen ist. Und die uns helfen, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Liebe Schwestern und Brüder, zu den Fakten von Weihnachten gehört noch mehr: zu ihnen gehören die Menschen, die mit Gott in Berührung kommen, sich von ihm anrühren lassen. Etwa gehört dazu eine Maria, die fragt und nachdenklich wird. Sie lässt Gottes Plan geschehen: „Mir geschehe, wie du es gesagt hast“, antwortet sie dem Engel. Dazu gehört ein Josef, der ebenfalls in diese Pläne einwilligt, obwohl sie ihm ziemlich dunkel vorkommen. Mit keinem Wort äußert er sich in der Heiligen Schrift. Für ihn gilt genauso wie für Maria: „Mir geschehe“. Schließlich gehören zu den Fakten von Weihnachten die Hirten, die sich auf dieses Geschehnis einlassen. Sie folgen der Botschaft der Engel und gehen zur Krippe hin. Sie stellen fest, dass es genauso ist, wie ihnen gesagt worden ist.
Das Leben der Menschen, die mit dem Jesus Christus in Berührung kommen, verändert sich – auch heute. Manchmal fundamental, manchmal eher verborgen im Innern. Sie werden selber zu Fakten Gottes: Menschen, mit denen etwas geschehen ist. Menschen, die bezeugen, dass diese Welt nicht verloren, sondern von Gott geliebt ist. Menschen, die nicht negative Stimmungen erzeugen, sondern positive und friedliche Fakten schaffen.
Liebe Schwestern und Brüder, zum Weihnachtsfest wünsche ich uns, dass wir mehr und mehr zu Fakten Gottes werden können: dass wir keine verwässerten oder halbwahren Menschen sind; sondern echte, authentische Menschen, die von Gott, vom Kind in der Krippe berührt und verändert werden.