Vor etwa einem Jahr – ich war gerade neu als Erzbischof in Hamburg – habe ich eine Gemeinde in Mecklenburg besucht. In einem Wald in der Nähe von Rehna zeigte mir der örtliche Pfarrer zerfallene Holzhütten. Hier wurden nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebene Sudetendeutsche mit dem Zug ausgesetzt. Sie haben sich einfache Hütten gebaut – ohne Wasser, Strom und Heizung. Die Folgen von Flucht und Vertreibung wurden mir selten so deutlich vor Augen geführt.
Heute begehen wir in unserem Land zum zweiten Mal den Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Wir denken unter anderem an die Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden durch den Nationalsozialismus und an die Deutschen, die vor 70 Jahren ihre Heimat gen Westen verlassen mussten. Wir machen deutlich: Flucht und Vertreibung sind keine harmlosen Umzüge, keine normalen Wohnortwechsel. Das heutige Gedenken soll diese Spuren der Vergangenheit heilen helfen. Was passiert ist, soll nicht verdrängt, sondern ehrlich angeschaut werden.
Das Gedenken muss uns aber vor allem mahnen, Flucht und Vertreibung nicht zuzulassen und ihre Folgen zu mildern. Wir können nicht an gestern denken, ohne auf die Flüchtlinge von heute zu schauen. Natürlich, die Situation vor siebzig Jahren war eine andere als heute. Aber die Geschichte der Menschheit ist leider durchtränkt von Flucht und Vertreibung. Das darf uns nicht gleichgültig werden lassen.
Denn glaubwürdiges Gedenken heute setzt auch ein glaubwürdiges Engagement heute voraus. Als Staat, als Gesellschaft und auch als Kirche müssen wir uns für Flüchtlinge und gegen Fluchtursachen engagieren. Ich danke von Herzen allen Haupt- und Ehrenamtlichen, die sich daran beteiligen.
Gerade als Christen gilt für uns dabei das Wort Jesu: „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; … [Denn] was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“