Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Schwestern und Brüder!
Die letzten Tage vor Weihnachten sind für viele hektische Tage, mit zähfließendem Verkehr, mit Stau, nicht nur auf den Straßen, sondern auch in den Fußgängerzonen und vor den Kassen der Geschäfte.
Weihnachten bietet die Chance der Unterbrechung, des Innehaltens. Die Staus lösen sich auf, es wird auf einmal ruhig. Jetzt unterbrechen wir sogar den Rhythmus von Tag und Nacht und kommen zu einer der ungewöhnlichsten Zeiten zur Christmette zusammen. Weihnachten will auch die „inneren Stauungen“ auflösen helfen.
Wir dürfen uns neu orientieren und über die Richtung unseres Lebens Klarheit verschaffen: Worauf kommt es an? Worauf kommt es mir an?
Zuerst fällt dabei mein Blick jetzt auf das Kind: das Neugeborene in der Krippe. Emil Hansen, geboren 1867 in Nolde/Nordschleswig, besser bekannt als: Emil Nolde, dessen Werke gerade in unserer Kunsthalle ausgestellt werden, er hat es in seinem Polyptychon „Leben Christi“ 1912 so gemalt: Maria hält ihr Kind mit ausgestreckten Armen in die Höhe. Sie steht nicht daneben und schaut herab und hat dabei die Hände gefaltet. Nein, sie ergreift das Kind und hält es voller Stolz in die Höhe und in die Mitte des Bildes. Darauf kommt es an Weihnachten zuerst an: Jesus Christus zu ergreifen und mit ihm das Leben zu ergreifen, das neue, ursprüngliche, unverbrauchte und unverdorbene Leben. Keiner will doch ein Leben, das abgestanden ist, längst ungenießbar, verfault, verkracht und kaputt. Weihnachten will ich das neue, zarte, zerbrechliche und doch ganze schöne und vollkommene Leben begreifen und in meinen Händen halten. Mir wird deutlich: Nicht das große Theater rettet mich, nicht Machtgepränge, nicht Reichtum – all das macht nicht die Größe des Lebens aus. Die Größe liegt im Kleinen, die Vollendung im Ursprung, das Besondere im Einfachen. Weihnachten will ich dieses, mein Leben, in Händen halten. Und doch irgendwie das Leben dieser Welt, um deren Überleben wir uns sorgen, nicht nur die Politiker beim Klimagipfel in Paris, sondern auch wir hier beim Klimapilgerweg, der in Flensburg begonnen hat. Denn die Bewältigung des Klimawandels – in der großen Politik, aber auch bei den vielen, kleinen Schritten vor Ort – ist Ausdruck dieser Sorge um unser Leben und das Überleben der Erde und auf unserer Erde.
Und ein Zweites: Dieses Leben kommt in einer Krippe zur Welt, auf der Wanderung, in der Gesellschaft von Hirten, die im Freien leben. Wenn dem Kind selbst und seinen Eltern auch alles Mögliche fehlen mag, eines fehlt nicht: die menschliche Wärme.
Ich denke in dieser Nacht an so viele, deren Leben aus lauter Dunkelheit und Kälte besteht: Ohne Obdach, auf der Flucht, direkt hier neben unserem Dom, am Hauptbahnhof, aber auch in Krieg und Terror, in Krankheit, Arbeitslosigkeit und vielem anderen mehr. Überall zu wenig, über und überall ein Mangel an Mitteln zum Leben, aber hoffentlich kein Mangel an Leben, weil Leben immer Beziehung ist. Da wo Beziehungsmangel besteht, besteht Lebensmangel. Weihnachten will unsere Beziehungen vertiefen – unter einander, zu uns selbst und nicht zuletzt zum Ursprung und Ziel des Lebens, zu Gott, von dem die Bibel sagt: Du bist ein Gott des Lebens.
Und schließlich: Maria hält dieses Kind auf dem Bild hoch. Sie hält es in die Welt hinein. Es wird sich kontinuierlich in dieses Leben einleben. Es wird sich einleben in diese Welt, wie sie ist. Aber nicht nur das: dieses Kind wird sich nicht nur in die Welt einleben, wie die Welt eben ist, sondern es wird in diese Welt hineinleben, wie sie gedacht und gewollt ist. Dieses Kind, ja dieser Mann, dieser Jesus von Nazareth, lebt wie kein anderer die Echtheit zwischen dem Ursprung des Lebens von Gott her und den Realitäten dieser Erde. Er, er allein, bringt Anspruch und Wirklichkeit zusammen. Bei ihm sind Wort und Tat eins. Später wird er sagen: „Nicht jeder der zu mir sagt: ‚ Herr‘ wird in das Himmelreich kommen, sondern nur wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt‘ “ (Mt 7,21). Echtes Leben ist da, wo es diese Echtheit gibt, diese Einheit von Wort und Tat, von Anspruch und Wirklichkeit.
Weihnachten will uns in Berührung bringen mit dem Leben. Weihnachten will uns aufhelfen unser Leben wieder anzunehmen, ja in die Hand zu nehmen: Als ganz einfaches, kleines, ursprüngliches Geschenk, als ein Leben in Beziehung und ein Leben in Einheit, in Einheit von Anspruch und Wirklichkeit.