Es gilt das gesprochene Wort!
(1. Les.: Dtn 18, 15-20 ; 2. Les.: Kor 7, 32-35 ; Ev.: Mk 1, 21-28)
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
dem Wort Gottes Raum geben – dazu sind wir an jedem Sonntag eingeladen. Heute jedoch auf besondere Weise, da wir den „Sonntag des Wortes Gottes“ begehen. Papst Franziskus hat ihn im Jahr 2019 eingeführt, um den Gläubigen den großen Wert des Wortes Gottes bewusst zu machen. In Deutschland begehen wir ihn immer zusammen mit dem ökumenischen Bibelsonntag, d.h. am letzten Januarsonntag.
Um den Schatz des Wortes Gottes zu heben, gibt Papst Franziskus in seinem Begleitschreiben zum Bibelsonntag Hinweise für den Umgang mit der Heiligen Schrift. Ein Merksatz daraus für mich lautet: Jesus Christus ist der erste Exeget. Exegeten sind die Ausleger, die Interpreten, die Experten der Heiligen Schrift. Der erste von ihnen ist Christus; das ist in einem qualitativen Sinn zu verstehen: der beste, der tiefste, der authentischste Interpret der Heiligen Schrift ist Christus selbst. Als der auferstandene Christus den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus begegnet, spricht er mit ihnen und erklärt ihnen den Sinn der Schrift. Die Heilige Schrift der Juden, Tanach genannt, besteht aus 24 Schriften, die Eingang in unser Altes Testament gefunden haben. Der Auferstandene erläutert den beiden Jüngern alle einschlägigen Schriftstellen der hebräischen Bibel, in denen sich Hinweise auf den Messias finden. Auf einmal verstehen sie die Schrift, wie sie sie offenbar noch nie verstanden haben, sodass sie eine Veränderung bei sich selber feststellen müssen: Brannte uns nicht das Herz!?
Auch das heutige Evangelium vermittelt uns einen Eindruck, dass Jesus nicht bloß ein guter Redner ist, der etwas erzählt, sondern dass seine Worte gefüllte Worte sind. Er lehrt mit Vollmacht, sodass die Menschen über seine Lehre nur staunen können. Seine Jünger beauftragt der Auferstandene es ihm gleich zu tun: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung!“ (Mk 16, 15)
Diese Evangelisierung, d.h. Glaubensverkündigung, ist vorrangig ein Bekanntmachen der Menschen mit dem Wort Gottes, mit der Frohen Botschaft, dem Evangelium. Einer der ersten Glaubensverkünder hier im Norden, war der heilige Bischof Ansgar, dem zur Ehre wir heute unsere Sankt-Ansgar-Woche eröffnen. St. Ansgar hat sich zunächst in der Züruckgezogenheit des Klosters, als Mönch in Corvey, ausgiebig dem Wort Gottes gewidmet. In der Betrachtung, im Nachdenken über die Texte der Heiligen Schrift, hat Ansgar die Weisung Gottes erkannt, ja Gott selbst tiefer verstanden. So gerüstet konnte Ansgar als Verkünder und Glaubensbote ausziehen.
Wie Christus erster der Exegeten ist und Ansgar der Apostel des Nordens, so gibt es noch viele andere, die folgten. Heute denken wir dabei auch an Nestor Kuckhoff, dessen 60. Weihetag zum Priester wir miteinander feierlich begehen dürfen. Am 1. Februar 1964 wurde er im Osnabrücker Dom geweiht. Es folgten, wie das damals üblich war, drei Kaplansstellen: in Elmshorn, Meppen und Kiel. Schließlich wirkte er als Pfarrer und Dechant in Kiel, bevor er im Januar 2005 als Dompropst hier an den Mariendom wechselte. In Kiel hat er eine Reihe von Altenwohnungen gebaut, hier musste er die Renovierung des Domes managen. Aber Bauen ist sicher nicht die erste Aufgabe eines Priesters, vielmehr das Aufbauen des Reiches Gottes. Das hat er in der Seelsorge immer wieder getan, vielfach auch in Schulen als Religionslehrer. Bis heute wirkt er auch in seinem Ruhestand unermüdlich an vielen Stellen weiter. Gerne hält er in jedem Gottesdienst, auch an den ganz normalen Werktagen, wenigstens eine kurze Ansprache. An dieser Stelle sei es gestattet eine kleine Anekdote aus der Kaplanszeit des Jubilars einzufügen: An einer Kaplansstelle ging es ihm mit dem Pfarrer nicht ganz so einfach. Der wollte ihm eines Sonntags eins auswischen und forderte ihn am frühen Morgen auf, spontan die Predigt zu übernehmen. Eigentlich wäre der Pfarrer dran gewesen. Als Kaplan Kuckhoff dann schließlich auf der Kanzel stand, hat er den Gläubigen in etwa gesagt: „Leider habe ich gerade erst davon erfahren, dass ich die Predigt halten soll. Deswegen bin ich unvorbereitet. Eine unvorbereitete Predigt dient niemandem. Deswegen verzichte ich darauf. Amen“. Exegese, Auslegung der Heiligen Schrift braucht nicht nur ein theologisches Studium, in welchem man die Theorie lernt, es braucht auch immer wieder Zeit der Vorbereitung, des Lesens und Betrachtens des Wortes Gottes. Der Prediger muss zunächst dem Wort Gottes in sich Raum geben und dann den Versuch machen, es in das Leben von heute zu übertragen.
Damit möchte ich zu unseren Schwestern aus Nette kommen, die heute die Ansgar-Medaille erhalten, stellvertretend für die vielen Mitschwestern, die im Laufe der Jahre hier oben im Norden, im heutigen Gebiet des Erzbistums Hamburg gelebt und gewirkt haben. Der Katalog dessen, was die Schwestern getan, gewirkt, ausgeführt, aber auch erlebt haben, ist lang und vielfältig. Eins jedoch verbindet alle Schwestern, unabhängig davon, wo sie eingesetzt gewesen sein mögen und was ihre konkreten Aufgaben waren: Jede einzelne von ihnen ist eine Exegetin des Wortes Gottes gewesen. Mit Sicherheit hat jede in ihrer Bibel immer wieder gelesen und darüber nachgedacht.
Exeget muss man nicht unbedingt auf der Kanzel oder am Predigtpult sein. Das passiert im gelebten Alltag, dort wo jemand das Wort Gottes nicht nur hört, sondern versucht danach zu leben. Es kann im Bibelkreis von Gemeinde und Kloster sein. Ich denke dabei auch an die vielen Exerzitienangebote, die das Kloster Nette zu einem gefragten Ort der Begegnung mit dem Wort Gottes machen. Menschen können hier, angeleitet von Schwestern, dem Wort Gottes Raum geben und dem Auferstandenen begegnen.
Liebe Gemeinde,
Christus, der erste Exeget, der seinen Jüngern die Schrift ausgelegt hat. Jede und jeder einzelne hat wahrscheinlich Bibelstellen, die wie Klippen sind, über die man kaum hinweg kommt, die sich einem immer wieder in den Weg legen, die wie ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Vielleicht können wir angeregt durch den heutigen Bibelsonntag, aber auch das Beispiel unserer Ehrengäste, Dompropst Kuckhoff und die Netter Schwestern, Mut bekommen, dem Wort Gottes Raum in uns zu schenken und so an der einen oder anderen Stelle selbst zum Exegeten, zur Exegetin zu werden.