Es gilt das gesprochene Wort!
(Jer 4,5-10; Off 13,1-10; Mt 5,1-12)
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
eine martialische Lesung. Sie beschreibt die brutale Realität des Krieges und wirft die Frage nach Gott auf: „Ach Herr und Gott, wahrhaftig, schwer hast du getäuscht dieses Volk und Jerusalem. Du sagtest Frieden werden wir haben! Und nun geht uns das Schwert an die Kehle“ (Jer 4, 10). Die Realität des Krieges verbindet das Volk des Alten Testamentes mit den Märtyrern von Lübeck vor 79 Jahren und mit unserer Gegenwart.
Eine traurige Bilanz: Die Anzahl der Gewaltkonflikte ist weltweit insgesamt gestiegen, vor allem in Afrika, aber auch im Iran, im Jemen und vielen anderen Regionen dieser Erde. Und durch den durch nichts zu rechtfertigen Angriffskrieg auf die Ukraine. Bis jetzt werden 16.000 zivile Todesopfer geschätzt und fast 15 Millionen ukrainische Flüchtlinge. Aus dem kalten Krieg ist längst ein heißer geworden. Über allem schwebt die Gefahr einer nuklearen Eskalation. Hoffentlich haben wir uns noch nicht allzu sehr an die Bilder der Raketen- und Drohnenangriffe auf Kiew, Odessa, Mariupol oder Charkiw gewöhnt! Zerstörte Infrastruktur, zerstörte Zukunftschancen, Kinder ohne Schule… Eine traurige Negativbilanz! Menschen, denen die Freiheit zum Leben genommen ist! Und das wird dann auch noch religiös vom Patriarchen in Moskau legitimiert. Welch ein Hohn!
Ganz zu schweigen von den Kollateralschäden, den humanitären Krisen, der angespannten wirtschaftlichen Lage, der Inflation, der Energiekrise – und der Angst, die sich hier bei uns breitmacht und die ich bei meinem Besuch in der Ukraine und Polen gerade vor Ort spüren konnte. Das polnische Volk fragt sich voller Sorge: Sind wir die nächsten?
Jeder Krieg ist eine offene Wunde für die Menschheit. Kein Krieg macht Sinn! Krieg hat nie einen Mehrwert, führt nie zum Besseren. Nein, jeder Krieg schadet- und zwar allen. Am Ende stehen alle als Verlierer da. Diese traurige Bilanz müsste uns mit dem Blick auf die Geschichte der Menschheit allzu deutlich vor Augen stehen!
Die Menschen in der Ukraine haben mir im Sommer eine Botschaft mit auf den Weg gegeben: Vergesst uns nicht! Ich möchte allen danken, die sich der Menschen im Krieg bewusst sind und sich ihrer erinnern. Ich möchte denen danken, die für sie die Stimme erheben in der Gesellschaft, in den Medien, in der Politik. Ich danke allen, die anpacken und helfen, die ihre Pakete zur Versorgung, mit Medikamenten und vielem anderen mehr packen, die spenden. Ich danke allen, die den Geflüchteten, die hier bei uns in Deutschland leben, ihre Tür und ihr Herz öffnen, die sie hereinlassen, die das Leben, die Angst, die Verzweiflung und Trauer miteinander teilen. Mit jeder noch so kleinen Tat setzen wir ein Zeichen gegen diesen sinnlosen Krieg.
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten viele Menschen aus der Ukraine kennen gelernt, die mir Respekt, ja Bewunderung abverlangen. In ihrem Leid geben sie sich und ihr Volk nicht auf. Ich habe eine Zuversicht und Hoffnung verspürt, wie sie vielen vielleicht fremd ist. Es gibt auch heute Helden und damit meine ich nicht Helden auf dem Schlachtfeld, nein, die Helden und Heldinnen der Liebe, der Menschlichkeit, der Zuversicht, der Hoffnung. Mitten in vielen Tränen und in großer Trauer steckt eine starke Zuversicht. Sie ist der Motor, sich jetzt nicht hängen zu lassen, sondern tätig zu sein und schon heute mit dem Wiederaufbau zu beginnen.
Ich habe in diesen Wochen und Monaten viele Menschen erlebt, die beten. Ich denke an unsere Gemeinden, die sich eigens versammeln und um den Frieden beten. Ich wünsche mir, dass in keinem Fürbittgebet diese Bitte fehlt. Wer betet, der weiß sich mit Gott verbunden und von ihm getragen. Der legt nicht die Hände in den Schoß und delegiert sein Leben auf Gott ab, sondern der ist frei von allem Krampf der Überheblichkeit und Selbstbehauptung, der ist frei zum Handeln und Wirken. Die inbrünstigen Gebete der Ukrainer und Ukrainerinnen, die ich mangels Sprachkenntnisse nicht übersetzen kann, haben große Kraft und zeigen mir etwas von dem langen Atem, den wir alle brauchen.
Liebe Schwestern und Brüder,
unsere Lübecker Märtyrer sind vor 79 Jahren um diese Abendstunde herum in Hamburg in wenigen Minuten nach 18:00 Uhr hintereinander gestorben. Dieser Abend des 10. Novembers verweist schon auf den morgigen Tag, den 11. November, den 11.11. Im kirchlichen Kalender ist es das Fest des heiligen Martin, mit dem ein großes Brauchtum verbunden ist. Dieser Heilige gehört auch in die wechselvolle Geschichte von Krieg und Frieden hinein. Seine Eltern, die nicht getauft waren, haben ihm den Namen Martin gegeben und damit dem Kriegsgott Mars geweiht. Als Sohn eines Offiziers wurde er selbst mit nur 15 Jahren Soldat. Bei einer Schlacht in der Nähe von Worms kam es für ihn zur entscheidenden inneren Auseinandersetzung; er verweigerte den Kriegsdienst und wollte aus dem Krieg aussteigen und fortan nur noch für Gott streiten: „Bis heute habe ich dir gedient, Herr, jetzt will ich meinem Gott dienen und den Schwachen. Ich will nicht mehr länger kämpfen und töten. Hiermit gebe ich dir mein Schwert zurück. Wenn du meinst, ich sei ein Feigling, so will ich morgen ohne Waffen auf den Feind zu gehen“, so berichtet (sein Biograf Sulpicius Severus in der Vita Sancti Martini). Martin wurde gefangen genommen, um am nächsten Tag zum Kampf gezwungen zu werden. Doch am folgenden Tag boten die Germanen Frieden an und Martin verließ daraufhin die Armee. Er wurde Mönch und später Bischof von Tours. Solche Bekehrungen verwandeln die Geschichte der Menschheit bis heute, und zwar nicht zum Schlechten, sondern zum Besseren.
Auch unsere Märtyrer haben mit ihren Worten und Taten bezeugt, für welchen Dienst sie sich entschieden hatten. Eduard Müller schreibt dazu aus seiner Gefängniszelle: „Christkönigsfest! Es kann ja für uns nichts Größeres geben, als seine Streiter und Kämpfer zu sein (…) SEIN Dienst ist höchster, heiligster Dienst, ist größte und schönste Lebensaufgabe. Kein Tag darf vergehen, ohne dass wir für IHN gefochten und gerungen haben, sei es in der Welt da draußen, sei es in uns selbst.“
Für viele Ihnen anvertraute Menschen waren sie wie Leuchttürme in einer finsteren Zeit: Indem sie bei geheimen Versammlungen miteinander beteten und wider allen Hass die Botschaft des Evangeliums predigten, wurden die vier Märtyrer zum moralischen Rückhalt und zu Hoffnungsträgern. Sie haben gezeigt, wie grundverkehrt die Hasspropaganda der Nazis war und dafür waren sie bereit, den höchsten Preis zu zahlen. Ihr unerschütterlicher Glaube an die Auferstehung und die Begegnung mit Christus im ewigen Leben und ihr Friede hat die Besucher in der Todeszelle tief bewegt und beeindruckt.
Ihr Zeugnis bleibt uns Auftrag und Motivation, für den Frieden zu beten und zu wirken, für eine Kultur der Solidarität und des Mitgefühls, für Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit.
Amen.