Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Schwestern und Brüder,
seit dem vergangenen Jahr führt die UNESCO das europäische Bauhüttenwesen als „immaterielles Kulturerbe“. Ob nun der Kölner Dom, die Kathedrale von Reims oder der Mailänder Dom: Sie alle sind architektonische Meisterwerke von Weltrang und ziehen stets Millionen von Besuchern aus der ganzen Welt an. Solche alten, monumentalen Bauwerke, so schön sie auch sind, sind auch ewige Baustellen. Um diese in Stand zu halten, braucht es das ganze Jahr über ein Team aus Spezialisten vor Ort. Dafür gibt es seit dem Mittelalter fest eingerichtete Gemeinschafts-Werkstätten an den Gebäuden, die sogenannten Bauhütten.
Diese Tradition der Bauhütten reicht bis in das zwölfte Jahrhundert zurück. Damals führte man sämtliche Werkstätten zusammen, um die gewaltigen gotischen Kathedralen zu bauen. Nun hat leider (oder vielleicht: Gott sei Dank) unser Sankt Mariendom, der zu den kleineren und jüngeren Kathedralen zählt, keine eigene Dombauhütte. Gäbe es noch den alten, weitaus größeren katholischen Dom hier in Hamburg, wäre dies sicher ganz anders. Aber vielleicht kann uns am heutigen Festtag eine solche Dombauhütte einen Wink für unser Erzbistum geben.
Auf einer solchen Hütte arbeiten viele Menschen mit unterschiedlichen Professionen zusammen: der Architekt, der Steinmetz, der Schreiner, der Glaser, der Dachdecker, der Restaurator und viele andere mehr. Jeder von ihnen sorgt mit seiner Sachkenntnis dafür, dass der Bau gelingen kann und vorankommt. Was für die Dombauhütte gilt, das gilt für die Kirche im Gesamten: Sie ist ein Bauwerk, eine Baustelle, auf der viele tätig sind. Jeder Einzelne hat seine Begabung, seine Fähigkeiten, sein Charisma.
Das Besondere einer Dombauhütte besteht darin, dass nicht jeder vor sich her arbeitet, gleichsam isoliert, sondern dass die verschiedenen Werkstätten zusammenarbeiten, voneinander wissen, sich aufeinander abstimmen und gemeinsam an dem einen Dom arbeiten. Modern würden wir eine solche Dombauhütte als Kompetenzzentrum bezeichnen. Was für eine einzelne Dombauhütte gilt, gilt auch für die vielen Dombauhütten in Frankreich, in Deutschland wie in Aachen, Bamberg, Soest, Freiburg, Ulm, Köln bis hin zum Nidarosdom in Trondheim untereinander: Die Hütten standen und stehen in engem wissenschaftlichen Austausch, sie haben keine Geheimnisse vor einander, sondern sie lernen voneinander.
Auch dies gilt für die Kirche und damit auch für unser junges Erzbistum Hamburg: Wir haben viele Kompetenzen – wie auf einer Dombauhütte sollen sie in ein lebendiges Spiel miteinander kommen. Das Ganze kann nur gelingen, wenn wir uns füreinander öffnen und unsere Begabungen miteinander teilen. Es geht also um Kooperation untereinander. Dazu braucht es die Grundhaltung einer gesunden Demut: Ich bin eben nicht alles und das Ganze, sondern ein Teil von ihm und in ihm, genauso wie die anderen auch. Es ist das Miteinander der Gemeinden und Pfarreien in unserer Diözese, es ist aber auch das Miteinander in der einen großen Weltkirche, in Verbundenheit mit dem Papst, mit unserer Partnerdiözese in Iguazú in Argentinien, mit unseren Nachbardiözesen in der Metropolie, mit den Diözesen in Skandinavien, unseren nördlichen Nachbarn.
Liebe Schwestern und Brüder!
Die Menschen auf den Bauhütten waren sich im Klaren, dass ihre Ideen erst viele Generationen später Wirklichkeit würden. Die meisten haben nie die Vollendung ihrer Arbeit erreicht. Sie haben die fertige Kathedrale nicht zu Gesicht bekommen. Aber sie lebten aus dieser Hoffnung, aus dieser Vision. In der Kirche unserer Tage erleben wir auch eher das Unvollkommene, das Unvollendete, die Bruchstücke, übertragen: die Skandale und die Krisen. Aber das ist nicht der gesamte Blick auf die Kirche, im Gegenteil es ist sehr gefährlich, wenn man nur diese eingeschränkte Sicht hat. Zur Gesamtperspektive gehört auch die Hoffnung, gehört die Vollendung, gehört die Zukunft, die wir alle noch vor uns haben. Kirche besteht nicht nur aus der Vergangenheit, die sie hinter sich hat, die sie aber auch mit sich herumschleppen muss; Kirche ist nicht nur die Gegenwart, die immer am herausfordersten ist. Zur Kirche gehört auch immer die Zukunft, die Gott uns verheißen hat und die wir alle noch vor uns haben. Deswegen besteht auch die Geschichte unserer jungen Erzdiözese nicht nur aus 25 Jahren, die wir hinter uns haben, und aus den Herausforderungen, in denen wir jetzt stecken. Zur Geschichte des Erzbistums Hamburg gehört auch die Zukunft, die Gott uns bereiten will. Diese Zukunft hat sogar ein Übergewicht, sie ist viel stärker als Vergangenheit und Gegenwart zusammen.
Vielleicht kann uns das eine Erzählung vor Augen führen: Vor langer Zeit, an einem Nachmittag verlässt ein einzelner Reisender die sicheren Mauern einer mittelalterlichen Stadt. Als er etwa eine Meile vom Stadttor entfernt war, sieht er in der Ferne drei Männer langsam auf sich zukommen. Alle drei schieben eine Schubkarre vollbepackt mit Ziegelsteinen vor sich her. Als der erste Mann heran kommt, fragt ihn der Reisende: „Was machst du da?“ Verärgert über diese Frage, antwortet der müde Mann: „Ich schiebe eine mit Ziegelsteinen beladene Schubkarre!“ Als der zweite Mann näher kommt, stellt ihn der Reisende dieselbe Frage. Er erhält jedoch eine andere Antwort: „Ich habe Frau und Kinder, sie müssen essen und ich muss arbeiten, damit sie etwas zu essen haben.“ Der Reisende geht auf den dritten Arbeiter zu und fragt ihn: „Was machst du da?“ Er bleibt stehen, stellt die Schubkarre ab und schaut den Fragenden an. In seinen Augen sieht der Reisende nicht nur Erschöpfung und Müdigkeit. Er entdeckt einen Anflug von Stolz und Würde. „Was ich mache? Ich baue eine Kathedrale!“
Liebe Schwestern und Brüder, alle drei machen die gleiche Schwerstarbeit, aber mit einer ganz anderen Einstellung. Je mehr Sinn und Perspektive man in dieser schweren Arbeit sieht, umso sinnvoller wird man sie erfahren, umso mehr Energie kann man für sie aufbringen. Ich wünsche uns im Erzbistum Hamburg heute, am 26. Geburtstag unserer wieder gegründeten Diözese, diese großartige Vision von Kirche bzw. vom Aufbau des Reiches Gottes, Ziegel für Ziegel, Werkstatt für Werkstatt in Kooperation und Demut, für die Zukunft unserer Kirche.