Es gilt das gesprochene Wort!
1. Les.: Ijob 19, 1.23- 27 ; 2. Les.: 2 Kor 5, 1. 6-10 ; Ev. : Joh 11, 17-27
Liebe Schwestern und Brüder,
„der Herbst zeigt uns, wie schön es ist, loszulassen....". Vor kurzem erhielt ich eine Postkarte mit genau diesen Worten.
Bin ich in diesen Tagen in unserem großen Erzbistum unterwegs bin, dann fahre ich oft durch Straßen und manchmal Alleen, die ein herrliches Bild abgeben: das Gelb, das Rot, das Grün, das Braun der Blätter. Es ist beeindruckend, dass die Natur – bevor Sie in die Ruhezeit des Winter hineinstirbt – noch einmal ein Feuerwerk dieser Farbenpracht aufbietet, so als wollte sie uns den Übergang aus der Lebensfülle des Sommers in die kalte und graue Zeit versüßen und uns noch einmal zu Dankbarkeit und Freude aufrufen. Es ist in der Tat ein schöner, malerischer Übergang.
Der Kartenspruch weist nicht nur auf die schönen Farben der Blätter hin, sondern darauf, dass sie in diesen Tagen abfallen. Manchmal sehr zu unserem Leidwesen, wenn wir sie denn alle beiseite schaffen müssen. Die französische Sprache nennt die abgefallenen Blätter „feuilles mortes" – tote Blätter. Eine sprechende Bezeichung, die deutlich macht: Es ist die Zeit, in der die Natur ihrem Absterben entgegen geht: die fallenden Blätter, nur noch wenige Blumen; Dunkelheit und Kälte nehmen zu. Ein Kreislauf, der sich jedes Jahr wiederholt.
Vielleicht sind diese herabfallenden Blätter im Herbst ein passendes Sinnbild für den Herbst unseres eigenen Lebens. Unser eigenes Leben ist auch vom Wandel geprägt, vom Werden und vom Vergehen. Im farbenfrohen Herbst des Lebens zu stehen, kann sinnbildlich bedeuten, sich noch einmal bewusst zu machen, welche „Farben" mein Leben hatte: bunte und prächtige, aber auch graue und dunklen Töne.
Der Herbst ist auch die Zeit, die Ernte einzufahren. So können wir die Früchte unseres Lebens anschauen, Manches, das gut gelungen ist; anderes, das sich nicht entwickelt hat oder eingegangen ist. Diese kleine „revision de vie" kann eine gute Übung sein zum Ende des (Kirchen-)jahres und ist gleichzeitig eine Vorbereitung auf das, was uns alle eines Tages erwartet. Gleich mit dem ersten Atemzug eines Menschen ist nämlich eines unverbrüchlich klar: er wird sterben. „Les feuilles mortes" - möglicherweise kennen Sie dieses bekannte Chanson von Yves Montand, in dem er den Tod thematisiert, der uns Menschen „still" voneinander scheidet: „Mais la vie sépare ceux qui s'aiment. Tout doucement, sans faire de bruit."
Das Allerseelenfest heute will uns eine ähnliche Botschaft vermitteln: wir müssen unsere Verstorbenen Mitmenschen loslassen, sie gehen lassen. Und als Christen glauben wir fest, dass sie nicht einfach herabfallen wie Blätter und dann auf dem Boden zergehen. Auch leben unsere lieben Verstorbenen nicht einfach „nur" in unseren Gedanken fort, wie es das chanson suggeriert. Nein, wir glauben, dass sie in Gottes Hände fallen, dass sie in Gottes Nähe leben und sein und bleiben dürfen. Für immer und in einer Lebensfülle, wie wir sie hier auf Erden nur erahnen können.
Und das ist auch meine Hoffnung für mich selber und alle Lebenden: deswegen kann ich nicht nur, nach einem Prozess der Trauer, liebe Menschen, die bereits gestorben sind, loslassen und in Gottes Hände geben, sondern ich kann versuchen, mich selber zu lassen und hoffen, dass ich in der Stunde meines Todes soweit bin, mich Gott anheimzugeben. Das Glaubensgeheimnis der Auferstehung ist groß und für uns Menschen staunenswert, ein wenig wie das jährliche Staunen darüber, wie die abgestorbene, knorrige Winterlandschaft im Frühjahr wieder zu neuem Leben erblüht. Allerseelen nimmt uns in diese Schule des Lebens, des Sterbens und Auferstehens.
Das Fest heute hilft mir im Hier und Jetzt gelassen und dankbar zu leben. Der Theologe Romano Guardini bringt es auf den Punkt: „Geborgenheit im Letzten gibt Gelassenheit im Vorletzten". Wer also in dieser Hoffnung durch sein Leben geht und auf dieses Ziel hin ausgerichtet bleibt, der kann andere und sich getrost lassen und er kann versuchen, gelassen zu leben.
Das Wort von der Postkarte spricht nicht nur vom Herbst des Lebens und der Natur, vom Sterben und Loslassen. Es sagt sogar, dass es „schön" ist, loszulassen. Schön, weil wir der Schönheit Gottes und des Lebens wieder einen Schritt weiter entgegengehen.