Die Äußerung wurde zu einem der bekanntesten Zitate ihrer Kanzlerschaft: Als 2015 Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland strömten, sagte Angela Merkel (CDU) am 31. August auf einer Pressekonferenz den Satz „Wir schaffen das“. Wenige Wochen später wurde der katholische Hamburger Erzbischof Stefan Heße Sonderbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für Flüchtlingsfragen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) blickt er zurück auf den Flüchtlingssommer vor zehn Jahren und kommentiert den Migrationskurs der neuen Bundesregierung.
Frage: Herr Erzbischof, wie bewerten Sie aus heutiger Sicht Angela Merkels Aussage „Wir schaffen das“?
Als sie 2015 diesen Satz gesagt hat, wuchs die Zahl der geflüchteten Menschen. Sie kamen vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Internationale Flüchtlingsorganisationen waren mit der Versorgung der Menschen überfordert. Ich hörte und höre den Satz weiterhin als Ermutigung für Geflüchtete und Helfer. Hätte Merkel gesagt: „Das geht alles gar nicht“, wären die Flüchtlinge wohl in eine viel größere humanitäre Katastrophe hineingeschlittert. Der Satz war zukunftsgerichtet und motivierte viele zum Handeln.
Frage: War es richtig, dass Merkel damals die Grenzen offengelassen hat?
Es gab gar keine andere Chance, daher war es richtig. Die Schwierigkeit liegt darin, dass einige Länder sich abschotten. Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Asylsystem, um die Herausforderung von Flucht und Migration zu bewältigen.
Frage: Welche Erfolge sehen Sie rückblickend in der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in Deutschland seit 2015?
Viele 2015 geflüchtete Menschen sind gut integriert. Sie haben Arbeit gefunden, etwa im Gesundheitsbereich oder beispielsweise als Busfahrer. Als Assad im vergangenen Jahr gestürzt wurde, fürchteten viele Betreiber von Altenheimen, dass nun alle Syrer wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Viele Einrichtungen hätten damit ihre Pflegekräfte verloren und ihren Betrieb einstellen müssen. Hunderttausende aus Syrien sind eingebürgert worden und Teil unserer Gesellschaft und unserer Arbeitswelt. Merkels Satz sollte deshalb nicht schlechtgeredet werden. Wir haben sicher nicht alles geschafft. Aber wir haben viel geschafft, und das verdient Anerkennung.
Frage: Welche konkreten Maßnahmen hat die Kirche in den vergangenen zehn Jahren ergriffen, um Flüchtlinge zu unterstützen?
Viele in der katholischen Kirche haben sich für Geflüchtete engagiert und tun es weiterhin. Derzeit sind bundesweit rund 5.000 Hauptamtliche und 35.000 Ehrenamtliche aktiv. 2015 waren es weitaus mehr, aber damals war der Bedarf auch größer. Sie unterstützen bei Sprachförderung, Behördengängen, Gesundheit, Berufseinstieg und Schule. Seit 2015 haben die deutschen Bistümer 1,2 Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe bereitgestellt - davon 40 Prozent in Deutschland, 60 Prozent international, also vor allem in den Herkunftsländern.
Frage: Heute will die neue Bundesregierung einen härteren Migrationskurs durchsetzen und spricht von einer Migrationswende. Wie sehen Sie das?
Migration ist und bleibt eine Herausforderung. Das möchte ich nicht kleinreden. Aber eine aufgeheizte Debatte und populistische Scheinlösungen helfen nicht weiter. Ich plädiere dafür, gemeinsam mit anderen Ländern pragmatische Lösungen zu finden. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei, eine gerechte und faire Verteilung zu erreichen.
Frage: Die neue Bundesregierung hat bereits erste Maßnahmen umgesetzt: Es gab kürzlich einen Abschiebeflug nach Afghanistan, an den Grenzen werden manche Asylsuchende abgewiesen und der Familiennachzug ist für bestimmte Geflüchtete vorübergehend ausgesetzt. Meinen Sie das mit Scheinlösungen?
Insbesondere die Aussetzung des Familiennachzugs halte ich für problematisch, weil gerade dieser die Integration fördert. Wenn Menschen zusammenstehen in ihren familiären Beziehungen, ist das für sie bestärkend. Kritisch sehe ich auch die Aussetzung weiterer Aufnahmeprogramme durch die Bundesregierung, etwa für Afghanen. Denn diese Programme dienen dazu, sichere und legale Migrationswege zu ermöglichen. Positiv sehe ich hingegen, dass der Koalitionsvertrag Deutschland als Einwanderungsland anerkennt und das Asylrecht festschreibt.
Fragen: Viele Bürger fühlen sich durch den Zustrom von Flüchtlingen überfordert, insbesondere in Kommunen mit begrenzten Ressourcen. Wie reagieren Sie auf Kritik, dass auch die Aufrufe der Kirchen für die Aufnahme von Flüchtlingen zu einer Überforderung beitragen würden?
Ich finde es richtig, dass die Kirche an der Seite dieser Menschen steht. Die Kirche muss sich immer an die Seite der Schwachen stellen. Und wir lassen es ja nicht dabei bewenden: Die Zahlen, die ich eben genannt habe, bestätigen, dass die Kirche selbst auch ziemlich viel leistet. Das gilt übrigens auch für die evangelische Kirche und für viele andere zivilgesellschaftliche Akteure. Wir versuchen, das, was wir fordern, auch selbst umzusetzen.
Frage: Sie fordern einerseits europäische Lösungen, haben aber andererseits die im vergangenen Jahr beschlossene EU-Asylreform kritisiert. Welche Änderungen sind aus Ihrer Sicht notwendig, um eine menschenwürdige Asylpolitik in Europa zu gewährleisten?
Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, die beschlossen wurde und die die Mitgliedsstaaten nun umsetzen müssen, ist ein lang ausgehandelter Kompromiss. Dieser ist erst einmal zu würdigen. Schwierig finde ich, dass künftig sogenannte Screening-Verfahren an den Außengrenzen stattfinden sollen und dass dazu haftähnliche Aufnahmelager entstehen sollen.
Frage: Wie und wo sollte man die Menschen dann unterbringen, während ihr Asylgesuch geprüft wird?
Jedenfalls nicht unter haftähnlichen Bedingungen und auch nicht fernab jeder Zivilisation. Die Menschen müssen sich frei bewegen und wichtige Einrichtungen in der Nähe erreichen können. Zum Beispiel möchten manche einen Gottesdienst besuchen. Dieses Recht darf man ihnen nicht verwehren.
Frage: Wie hat sich Ihre Arbeit als Flüchtlingsbischof seit 2015 verändert, und welche Herausforderungen erwarten Sie in den kommenden Jahren?
Die Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre zeigen mir, dass Flucht und Migration in Zukunft noch zunehmen werden. Die Zahl der weltweiten Auseinandersetzungen steigt. Hinzukommt Migration, die durch den Klimawandel bedingt ist. Da sehen wir gerade erst die Anfänge. Migration wird vielleicht neben dem Klimawandel die größte Herausforderung der Menschheit werden. Daran dürfen die Gesellschaft und auch die Kirche nicht vorbeischauen.